I can see clearly now.

Diesen Text habe ich vor über einem Jahr geschrieben. Geändert hat sich nichts: Jeden Tag habe ich mindestens einmal einen Moment, in dem ich mir sehr bewusst bin, dass ich ganz ohne Sehhilfe sehr gut sehe. Und dafür bin ich so dankbar, dass ich dafür keine Worte habe.

Ich musste sechs Wochen lang Brille tragen.

Ich muss nie wieder eine Brille tragen – und auch keine Kontaktlinsen mehr.

Zwei ganz kleine Sätze. Für mich riesengroß. Sechs Wochen lang Brille tragen – das war die Höchststrafe. Ich bin auf eine Sehhilfe angewiesen, seit ich drei Jahre alt bin. 1975 war die Auswahl an Kinderbrillen sehr beschränkt – es gab im Grunde nur ein Modell. Eine kreisrunde, rote, ziemlich doofe Brille, die ich widerwillig trug. Ein Nasenfahrrad. Unter der Brille – im Laufe der Jahre verschiedene Modelle, klar – habe ich lange sehr gelitten. „Brillenschlange“. Schulsport, um nur mal ein Beispiel zu nennen, war mit Brille nur schwer zu ertragen. Sie hat mich immer eingeschränkt, immer behindert. Man ist nie frei in seinen Bewegungen, wenn man eine Brille im Gesicht hat. Immer rennt oder hüpft oder purzelt die Angst mit, die Brille zu verlieren oder draufzufallen. Geräteturnen mit Brille. Leichtathletik mit Brille. Einmal hab ich einen Basketball ins Gesicht bekommen – Brille kaputt. Schwimmunterricht mit Brille? Geht ja nicht, also bleibt die Brille in der Umkleide. Und das kleine, eh schon ängstliche Mädel tapst völlig verunsichert durch fremde Sammelduschen, Gänge, Schwimmbäder. Schlechte Sportnoten, weil Schwimmverweigerung. Kurzsichtige Kinder haben keine Lobby.

Mit 16 Jahren bekam ich dann die ersten Kontaktlinsen. Ein Befreiungsschlag – endlich das lästige Ding los. Endlich die Augen schminken, endlich ein bisschen attraktiver sein. Endlich eine Sonnenbrille tragen können! Bis zu diesem Tag hat mich die Brille unsichtbar gemacht. Ich habe mich (das ist bis heute so) mit ihr so hässlich gefühlt, dass ich mich, wenn ich Brille trug, so unauffällig wie nur möglich verhalten hab. Damit mich keiner anschaut und diese Brille sieht. Die Brille war wie eine Tarnkappe. Und sie hat hervorragend funktioniert, ich war als Pubertierende für die „Jungswelt“ quasi nicht vorhanden.

Oder wie Dorothy Parker sagt: „Men don’t make passes at girls who wear glasses.“

Tja. Und das lag wohl eher nicht ausschließlich an den doofen Jungs – das lag ganz sicher an meinem nicht vorhandenen Selbstwertgefühl. Ich fühlte mich hässlich, also war ich es auch. Und kommt mir bloß nicht mit „es gibt ja auch total schicke Brillen“ oder „aber die Brille steht dir doch total gut.“ Ja. Die Brille ist nicht das Problem. Ich finde ganz viele Brillen total schick und cool – an anderen. Das Problem sind die Gläser, die bei meiner Dioptrienzahl erstens ziemlich dick sind. Und zweitens müssen sie so geschliffen werden, dass die Augen hinter den Gläsern winzig klein erscheinen. Doof nur, wenn die Augen das beste Feature im Gesicht sind. Es sah scheiße aus. Ich sah scheiße aus. Punkt.

Kontaktlinsen also, super! Ich bekam harte Linsen verpasst, an die gewöhnt man sich nicht so schnell, aber damals die einzige Option. Ich kam sehr gut damit klar, außer es kam ein Staubkorn oder ein Fussel drunter oder sie verrutschten oder es kam jemand in der Disco mit dem Ärmel in mein Auge und wischte sie raus. Mal eben 250 D-Mark auf der Tanzfläche gelassen. Aber doch, besser als Brille, immerhin. Kontaktlinsen waren viele Jahre lang eine großartiger Begleitung und eine wirklich gute Sehhilfe. Sie waren auch teuer – mindestens alle zwei Jahre ein neues Paar für drei- bis vierhundert Euro und monatlich etwa 20 EUR für die Pflegeprodukte. Von der Krankenkasse gibt’s dafür übrigens – nix. Auch nicht mit -12 Dioptrien. Kurzsichtige Menschen haben keine Lobby.

Und so war dann, als Augenlaser-OPs immer mehr en vogue wurden, mein Credo: Solange es mit den Linsen so gut funktioniert, lass ich meine Augen in Ruhe. Denn eine Augen-OP? Nicht so gerne. Da geht es dann halt doch ums Augenlicht. Und das hatte ich ja, wenn auch inzwischen dermaßen unscharf, dass ich ohne Sehhilfe komplett hilflos war, selbst in vertrauter Umgebung. Das klingt erst mal komisch, ist es aber nicht. Denn Kontaktlinsen müssen abends raus. Das heißt also, immer noch Brille tragen, morgens, abends, wochenends. Abends zum Lesen im Bett. Ich glaube, wer das nicht kennt, kann sich nicht vorstellen, wie ätzend es sein kann, zwischen Rumlümmeln und Einschlafen immer noch das Linsenrausfummeln, Putzen und Einlagern abhandeln zu müssen. Spontan wo übernachten, hm, ungern. Einmal hab ich (ich war jung und lebensfroh) die Linsen mangels Schnapsgläser in Suppentassen gelegt. Geht, ist aber nicht optimal. Und über die Jahre – die Dioptrienzahl wurde immer stärker – wogen die Unannehmlichkeiten immer schwerer. Im Sommer kein Tauchen, kein Rutschen, weil harte Linsen im Wasser sofort weggespült werden. Mit zunehmendem Alter werden die Augen auch trocken und empfindlicher. Abends mussten die Linsen dringend raus. Durchzechte Nächte sind jetzt eh nicht mehr so mein Thema – aber sie wären tatsächlich auch nur noch möglich gewesen, wenn ich die Linsen tagsüber draußen gelassen hätte (also Brille tragen. Uäh). Spontan ging also irgendwie gar nichts mehr.

Das hört sich alles gar nicht so tragisch an. Ich weiß. Ist es auch nicht. Aber es war lästig und umständlich und wurde immer doofer. Denn bei -12 Dioptrien sind die Kontaktlinsen so komisch geschliffen, dass das Lesen nicht mehr ging. Also Kontaktlinsen UND Lesebrille, oder die Handy-Schrift auf handicapped-Modus. Uäh.

So kam’s, dass ich mich im vorletzten Jahr überwinden konnte, eine unverbindliche Erstuntersuchung zu buchen (nachdem die Anzahl derer, die total begeistert von ihrer Laser-OP erzählten, im Bekanntenkreis wuchs und wuchs). Das Ergebnis war erstmal ernüchternd. Bei so hohen Dioptrienzahlen geht ein Laser-Eingriff nicht mehr. Was aber geht, ist ein sogenannter refraktiver Linsentausch (https://www.augenaerzte-reinhard.de/pd-dr-dr-kirsten-reinhard/linsenimplantate/). Ist halt aufwändiger – und teurer. Tja.

„Ich zahl dir das“, sagte der beste Mann. Und ich weiß nicht, wie ich das jemals aufwiegen soll.

Ich habe dann noch ein weiteres Jahr gebraucht, um mich an den Eingriff zu wagen. Zunächst mal, weil ich einfach eine Heidenangst davor hatte, an meinen Augen rumschnippeln zu lassen. (Ich kann auch immer noch nicht im Detail darüber nachdenken, es ist einfach zu gruselig). Und dann kommt ja auch dazu, dass man den Eingriff an zwei aufeinanderfolgenden Tagen macht. Und danach für eine Woche nicht viel machen darf. Wie soll das gehen? Naja: Es geht ja dann, irgendwie. Weil der Mann da einfach eingesprungen ist, das Kind groß und selbstständig ist und ganz viel Rücksicht nimmt, weil die Freundin als Fahr- und Begleitdienst einspringt und weil man eben doch nicht ganz so unersetzlich ist im Alltag, wie man gerne von sich glaubt. Und weil man schneller wieder funktioniert, als man glauben mag. Und dann eben auch: 6 Wochen lang Brille tragen. Zurück in alte Unsichtbarkeitsmuster fallen – ich war auch für mich selbst nicht mehr sichtbar, weil ich jeden Spiegel im Haus gemieden hab wie der Teufel das Weihwasser – Hunderunden mit der prallen Sonne im Gesicht, FFP-2-Masken unter die Brille geschoben, weil die Gläser sonst sofort beschlagen, Ausschlag von den Masken bekommen, da wo die Brille draufsitzt. Es war so, so ätzend.

Und jetzt ist es geschafft. Seit fast über einem Jahr bin ich brillen- und kontaktlinsenfrei. Der Eingriff war abenteuerlich und aufregend und ich hatte wirklich richtig große Angst. Aber nur beim ersten Auge – beim zweiten wusste ich ja, wenn der Anästhesist sagt, „jetzt geb ich Ihnen mal was zum Entspannen“, dann wird es sehr schnell sehr, sehr … äh, was?

Es ist so irre. Ich kann es immer noch nicht glauben. Seit 47 Jahren sehe ich zum ersten Mal normal scharf, wenn ich morgens die Augen aufmache. The rain has gone. 

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..