„auf diese Empfindlichkeiten kann man derzeit keine Rücksicht nehmen.“ Das ist Ihre Antwort auf die Frage, wie sich Ihr Vorschlag, dem Lehrer*innenmangel mit der Aufstockung von Teilzeitstellen zu begegnen, mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf verträgt. Diese Antwort ist eine Ohrfeige für ALLE Beteiligten – diejenigen, die Teilzeit arbeiten (MÜSSEN!), für ihre Familien, für die Schüler*innen, für das gesamte Bildungssystem. Ich kann meine Empörung darüber, wie Sie dieses Thema, das SEIT JAHREN Arbeitnehmer*innen, die eine Familie gründen möchten oder bereits haben, beschäftigt, derart bagatellisieren, kaum zügeln. Man verzeihe mir daher auch die gelegentliche Großschreibung. Dabei halte ich mich durchaus noch zurück. „Empfindlichkeiten“? ICH MÖCHTE NUR NOCH SCHREIEN.
Also nochmal im Klartext: Es gibt zu wenige Lehrer*innen an deutschen Schulen, schon seit Jahrzehnten. Jetzt, da viele ukrainische Kinder nach Deutschland kommen, die beschult werden sollen und mehr Zuwendung (insbesondere, um Deutsch zu lernen) benötigen, eskaliert die Situation. Endlich, möchte man meinen – endlich ein Grund, um ausreichend Lehrer einzustellen. Vielleicht auch ein Anlass, um den unerträglichen Zustand zu beenden, dass im Land Baden-Württemberg (AUSGEBILDETE!) Lehrer, die nicht verbeamtet sind, von Schuljahresanfang bis Schuljahresende befristet eingestellt werden und sich über die Sommerferien arbeitslos melden müssen. Auch dies status quo SEIT JAHRZEHNTEN.
Aber nein. Ihr Vorschlag, Herr Kretschmann, lautet: Teilzeitstellen auf eine Mindeststundenanzahl anheben. Wie weit entfernt vom Familenalltag kann man sich eigentlich bewegen? WO LEBEN SIE, HERR KRETSCHMANN? Es sind – SURPRISE! – überwiegend Mütter, die im Lehrberuf in Teilzeit arbeiten. Warum wohl? Jetzt denken Sie mal ganz scharf nach. Weil sie keinen Bock haben, mehr zu arbeiten? Der Lehrberuf ist, soweit ich weiß, der einzige, der im Grunde überhaupt vereinbar ist mit einer Familie. Weil man sich um die Kinderbetreuung während der Ferien nicht sorgen muss, weil man nachmittags meist daheim ist (wenn nicht grad Gesamtlehrerkonferenz oder Mittagsschule oder Notenkonferenz oder Vertretungsstunde oder …) und weil man eben RELATIV UNKOMPLIZIERT Teilzeit arbeiten kann. Das funktioniert ganz gut so. Teilzeitarbeitende sind NICHT verantwortlich für den Lehrermangel und den Zustand an den deutschen Schulen.
Und jetzt kommen Sie mit der grandiosen Idee, genau diese familienfreundlichen Teilzeitstellen zu streichen, um mehr Lehrerstunden zu generieren. Und dabei – das muss man sich ja wirklich mal bildlich vor Augen halten – werden in Baden-Württemberg JEDES SCHULJAHR ca. 5.000 Lehrer*innen befristet (also vom ersten bis zum letzten Schultag des Schuljahres) eingestellt, die sich dann auf die Sommerferien arbeitslos melden müssen.
Herr Kretschmann: familienfreundliche Arbeitsplätze, Vereinbarkeit, Schulbildung – diese Themen gehen uns alle an. Sie betreffen aber überwiegend Frauen, an der Biologie lässt sich da nur wenig rütteln. Mit Ihrer Äußerung, mit der Sie diese Themen als „Empfindlichkeiten“ wegwischen, treten Sie mit allen verfügbaren Gliedmaßen in den riesigen Klischeefettnapf des alten weißen Mannes. (Und ich HASSE es, dass ich dieses überstrapazierte Bild bemühen muss.) Da schwingt so ein unangenehmes „jetzt stell dich nicht so an“ mit. Sie tragen den Lehrermangel einfach mal so nebenbei auf dem Rücken der Frauen und Mütter und damit der Familien – ja, letztendlich der Kinder aus.
Bildung ist unser größtes Zukunftskapital. Dass es mit unserem Schulbildungssystem nicht grade so rosig aussieht, wissen wir alle nicht erst seit der Pandemie. Ich schaudere, wenn ich mir überlege, dass sich in den letzten 40 Jahren kaum etwas geändert hat an Unterrichtsmethoden, Lehrplänen, Didaktik. Das fängt bei den Heften in Plastikumschlägen an und hört längst nicht bei den zentnerschweren Rucksäcken auf, die die Kinder jeden Tag in die Schule und wieder heim schleppen. Dass Digitalisierung an Schulen lediglich bedeutet, dass jedes Kind ein Tablet zur Verfügung gestellt wird – gleichzeitig aber die Nutzung von WhatsApp und mobilen Endgeräten nur mit Stirnrunzeln geduldet wird. Im 21. Jahrhundert. WHAT. THE. FUCK.
Ein ganz großer Schritt zur Verbesserung der Lage wäre – JETZT KOMMT’S!!! – ausreichend Lehrer einzustellen. Unter würdevollen Bedingungen. Das würde für kleinere Klassen, weniger Ausfälle, mehr Diversität, mehr Esprit und frische Ideen, mehr Entlastung und letztendlich eine bessere Lernatmosphäre an Schulen sorgen. Um Schule zu einem Ort zu machen, an dem Lehrer und Schüler entspannt und mit Freude zusammen arbeiten können. Die Arbeitslast für Lehrer zu erhöhen und insbesondere Lehrer*innen noch mehr unter Druck zu setzen, damit sie unter der kaum bewältigbaren Aufgabe, Job und Familie auf zufriedenstellende Weise zu vereinen, vollends zusammenbrechen, ist ein Schritt in die falsche Richtung. Schon allein die Tatsache, dass Sie in diese Richtung überhaupt denken, entlarvt Sie als einen ewig gestrigen, null emanzipierten Typen auf hohem Ross, von dem es jetzt vielleicht mal Zeit wird, abzusteigen. So bringen wir Deutschland NICHT voran, Herr Kretschmann.
Es ist zum Verzweifeln.